Silver (Oktober 2002)

Die Leere ist ein Grund voll zu sein - Teil Drei

Wir rannten in eine dunkle Seitengasse, von der wir in eine noch dunklere Seitengasse abbogen.
Von dort aus gelangten wir in eine völlig dunkle Seitengasse, nur um nach einem weiteren Durchgang in eine absolut stockdunkle Seitengasse zu kommen. Als ich schon auf die abgrundtief dunkelste Seitengasse meines Lebens vorbereitet war, traten wir plötzlich auf eine mit Neonreklamen beleuchtete Fußgängerzone.
"Wer bist du!" keuchte ich.
"Ja wie, erkennst du mich nicht?" antwortete er mit einer bekannten, aber hohen Stimme - so als habe ein guter Freund einen tiefen Zug Helium eingeatmet.
"Stephan van Tan???" rief ich überrascht, als ich die Gesichtszüge genauer betrachtet hatte.
"Ganz Recht!"
"Aber wie … äh … warum … äh … wie …"
"Du willst wissen, warum ich jetzt kleinwüchsig bin?" fragte er schelmisch.
Ich nickte verblüfft.
"Tarnung!" antwortete er, als sei es das Naheliegenste der Welt.
"Mein letzter Fall … naja, da lief einiges schief, und jetzt habe ich die sizilianische Obstmafia am Arsch." erklärte er ruhig.
"Die sizilianische Obstmafia…?" wiederholte ich.
"Ja, ein ganz übler Verein, sag ich dir. Leg dich besser nicht mit denen an!"
"Ich werd's mir merken. Aber wie konntest du so sehr schrumpfen?" fragte ich immer noch verwirrt.
"Moderne Schönheitschirugie! Du glaubst gar nicht, was die heut zu Tage alles drauf haben."
"Kann's mir schon denken."
"Sie haben mir alle Knochen gebrochen, die Hälfte rausgeschnitten und wieder zusammengesetzt. Die Haut wurde feinsäuberlich zusammengenäht - man sieht so gut wie keine Narbe! Naja, und wo die eh gerade ab war, hab ich mich noch ein wenig liften lassen."
Er grinste mir wie eine Werbefigur für Gesichtswasser entgegen, wobei er die Brauen in schnellem Takt auf und ab bewegte.
"Sieht toll aus!" log ich.
"Danke. War auch nicht gerad billig." Er räusperte sich. "Und mit dem überschüssigen Gewebe hab ich mir dann noch eine Penisvergrößerung gegönnt - im Preis inbegriffen versteht sich."
"Was? Zusätzlich zu den eh schon kleiner gewordenen Proportionen?" fragte ich erstaunt.
"Hey!" beschwichtigte er in einem Tonfall, wie er John Travolta gut gestanden hätte, während er die offenen Hände von sich streckte als wolle er sagen: "New York, New York!"
"Die Mädels stehen drauf!"
"Da bin ich mir sicher." log ich erneut.
"So, und jetzt lass uns feiern gehen!" frohlockte er und klopfte mir freundschaftlich auf den Arsch.
"Sorry, muss mich erst noch dran gewöhnen - sollte die Schulter werden!"
"Kein Problem."

Doch dann erinnerte ich mich wieder an die Telefonzelle, Wut stieg in mir auf, schließlich hatte mich van Tan beinahe kastriert.

"Ach, aber wieso verdammt noch mal hast du mir vorhin in die Eier gebissen? Hast du den Arsch auf, oder haben sie dir dein Gehirn auch halbiert, oder was?"
"Hey, hey, hey! (John Travolta!) Du weißt doch, einen Mann mit ner goldenen Visitenkarte läßt man nicht einfach warten, klar? Und zweitens: Wenn ich sage: Rühr dich nicht vom Fleck, dann heißt das auch, rühr dich verdammt nochmal nicht von diesem scheiß Fleck, kapiert? Ich wollte dich mit dieser Maßnahme lediglich nochmal dran erinnern."
"Is dir gelungen." schmollte ich.
"Na also, komm ich lad dich ein!"

Auf der Theke waren in regelmäßigem Abstand polierte Messingstangen befestigt, die bis an die Decke ragten.
Unbekleidete Damen in Latexunterwäsche räkelten sich lasziv an eben diesen und ließen sich von den Besuchern Geld in den Slip stecken.
Nach drei White Russian, zwei weiteren Cuba Libre und einem Tequilla Sunrise gestand ich Stephan endlich, dass das Ambiente nicht ganz nach meinem Geschmack wäre.
Er stimmte mir zu und murmelte etwas von "zu prüde" und "verklemmte Jungfrauen", was allerdings in den wilden Basedrumschlägen einer Remix-Version von "Sex-Maschine" unterging.
Auf der Tanzfläche wippten schleimige Ölhauben und Zuhälterfiguren ihre sonnenbankgebräunten Ärsche neben Silikon-Schönheiten, die vermutlich nur vor den lauten Boxen standen, damit man nicht bemerkte, dass sie des Sprechens nicht mächtig waren.

"Siehst du die da vorne?" fragte van Tan beim Rausgehen, und zeigte auf eine zwei Meter große Dame, die so aufgedonnert war, als würde sie zu einer Familienfeier der Jacksons gehen.
"Ja!" bestätigte ich.
"War früher mal ein Mann!" antwortete Stephan lässig.
"Was die?" staunte ich.
"Ja, sie hatte nach mir den Termin. Ich habe sie im Wartezimmer getroffen. Die Ärzte haben echt gute Arbeit geleistet, ne?"
"Allerdings!"
"Hey, und der Kerl, der seinen Hintern so penetrant an ihren Knien reibt - siehst du den?"
"Ja." Es war einer von diesen Männeckens, die gewöhnlich die Autoscooter auf irgendeiner Kirmes bewachten und die ortsansässige Dorfjugend anbaggerten. Er hatte sein Hemd bis zum Bauchnabel geöffnet und entblößte eine überaus dichte Brustbehaarung, dass man den Eindruck bekam, er wäre dabei sein Lieblingsmeerschweinchen durch die Stadt zu schmuggeln, ohne dabei sehr geschickt vorzugehen.
"Was ist mit ihm?" wollte ich wissen.
"Er war früher eine Frau! Er hatte den Termin vor mir!"
"Sag mal, gibt es irgendwen in diesem Laden, der sich nicht irgendwas hat operieren lassen?" fragte ich, als wir schon fast den Ausgang erreicht hatten und auf der Treppe standen.
Stephan van Tan ließ seinen Blick eine kurze Weile kritisch durch den Club schweifen, dann antwortete er ernst: "Nein."

Die rote Eisentür, die auf die Straße hinausführte wurde von einer bulligen Dauerwelle in Bodybuilderhose und Muskel-Shirt bewacht. Ein niedliches Tränen-Tattoo schmückte seine rechte Wange und goldene Armreife seine Handgelenke.
Während er grimmig den Weg frei machte, zwinkerte ich ihm wissend zu.

"Wat soll dat?" blökte er.
"Hey, hey, hey!" antwortete ich lässig ala John Travolta (ich hatte definitiv zu lange mit van Tan verbracht).
"Du hättest dir die Frisur gleich mit umoperieren lassen sollen! Hey, das macht mir nichts aus, ich habe nichts gegen Transsexuelle mit Dauerwelle!"
"Ich aber!" zischte der schwuchtelige Türsteher durch knirschende Zähne hervor und bewies mir eindrucksvoll, dass meine Nase von Anke Demolka wirklich noch nicht gebrochen war.
Das unangenehme Geräusch, als würde jemand Nüsse in meinem Gehörgang knacken mutierte zu einem aubergine-farbenden Delphin, der eine Brille trug und ein Kochbuch mit Aufschrift "Lust auf Huhn - step by step" las.

Als ich aufwachte war es bereits wieder dunkel. Auf dem drehbaren Krankenhaus-Tischchen neben meinem Bett hatte jemand Blumen hingestellt. Eine kleine Karte mit goldenem Rand lag darunter, und dort stand:

Es gibt einige gewisse elementäre Grundsätze, die man nie vergessen sollte, wenn man einen angenehmen Abend verbringen möchte:
Punkt A: Diskutiere niemals mit einem Geldautomaten
Punkt B: Fang nie eine Schlägerei in einer Telefonzelle an
Punkt C: Frag auf keinen Fall den Türsteher, ob er sich hat umoperieren lassen

Hoffe Du hast den Abend trotzdem genossen,
bis nächstes Mal
Stephan Van Tan

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