Silver (Oktober 2002)

Die Leere ist ein Grund voll zu sein

Teil Zwei

Als ich wieder bei dem Kastrat war, der mir die ganze Scheiße eingebrockt hatte, legte ich ihm einen fünf Euro Schein in den Becher.
"Alles okay, mein Junge?" fragte er mit einem gurgelnden amerikanischen Akzent, der seiner hohen Stimme den Ton einer schiefen Drehorgel verlieh.
"Nanke, neht schon!" erwiderte ich im Vorbeigehen.
Die Bahnhofsuhr stand mittlerweile auf Viertel vor Elf, womit ich die Verabredung mit Stephan um gut eine halbe Stunde verpasst hatte. Gottseidank hatte ich noch seine Karte im Portemonnaie - "Stephan van Tan, special man of action" stand dort in goldenen Lettern auf das Papier gedruckt. Danach folgte die Anschrift seines Büros (mit Angabe der Öffnungszeiten), dann die seines Wohnsitzes, dann seine beiden Telefonnummern, die seiner Sekretärin, seine Faxnummer, seine Privatnummer, seine Handynummer, seine E-Mail Adresse und zu guter letzt seine Konfektionsgröße. Auf die Rückseite hatte er mit einem lila Füllfederhalter eine weitere Nummer gekrickelt und "für den Notfall" drunter geschrieben. Ich entschied mich für eben diese. Zwar war es kein Notfall, aber würde ich Stephan das schon irgendwie als Ausrede verklickern müssen, denn Männer, die eine goldene Visitenkarte besitzen, läßt man nicht einfach warten. Freizeichen. Nach fünf Klingeltönen meldete sich eine ungewohnt hohe Männerstimme am anderen Ende:
"Ja?"
"Stephan?" fragte ich zögernd. Wobei ich mich hütete einfach "Stefan" zu sagen - er hasst es, wenn man seinen Namen falsch ausspricht. "Stephan" spricht man aus, wie man es schreibt: STEP-HAN - ganz einfach. Also… "Stephan?" sagte ich jedenfalls.
"Ganz Recht." antwortete er kühl.
"Es tut mir leid, dass ich dich hab warten lassen, aber ich hatte gerade in der U-Bahn Station noch Stress mit so einem Bankautomaten…"
"Kein Problem, wo bist du jetzt?"
"Äh, circa 100 Meter von unserem Treffpunkt entfernt in einer Telefonzelle von Citycall."
"Rühr dich nicht vom Fleck! Bin sofort da!"
Ein Besetztzeichen ertönte.
Ich hängte den Hörer ein und betrachtete mein Spiegelbild in der getönten Scheibe. Die Nase sah vollkommen in Ordnung aus, nur ein dünner Streifen getrocknetes Blut zeugte von dem Treffen mit meiner Jugendliebe. In der Flasche befand sich nur noch ein jämmerlicher Schluck, den ich zusammen mit einer weiteren Tablette runterspülte. Ich musste pinkeln. Es gab da nur ein Problem: Wenn Stephan van Tan sagt: "Beweg dich nicht vom Fleck!" hieß das auch "Beweg Dich verdammt nochmal nicht von diesem scheiß Fleck!"
Nach wenigen Minuten besiegte meine Blase jedoch das bessere Wissen und so trat ich kurz hinter die Zelle, um gegen ein paar Müllcontainer zu pissen, auf denen "Für eine saubere Umwelt!" stand. - Als schreibe man auf eine Atombombe: "Für eine sichere Zukunft!" Noch innerlich lachend riss ich die Tür auf und huschte schnell in die Kabine zurück, in der ich auf Stephan warten sollte. Zu meiner Bestürtzung rannte ich mit voller Wucht in einen Kleinwüchsigen, den ich von draußen nicht gesehen hatte.
"Oh Gott, das tut mir leid. Haben Sie sich weh getan. Ich habe Sie nicht bemerkt. Ich dachte …" wollte ich sagen, als mir dieser verfluchte Zwerg völlig unvermittelt in die Eier biss. Er war vielleicht tollwütig oder so etwas - aber das fiel mir erst später ein. Meine primäre Reaktion bestand aus einem langen (dem Gesang des U-Bahn-Eunuchen nicht ganz unähnlichem) schrillen Schrei. Intuitiv ergriff ich die Ohren des Unholdes und schlug ihn kräftig gegen die Glasscheibe, was einige Passanten in dieser belebten Fußgängerzone aufmerksam werden ließ. Die ersten Leute rannten herbei und starrten entsetzt auf das Spektakel. "Helfen Sie mir!" wollte ich rufen, während ich die Ohren wie Henkel gepackt hielt und den daran befindlichen Kopf gegen alle erdenklichen Gegenstände schmetterte, doch ich bekam nur ein heiseres "OUOUOUOHHH" heraus. Ein dickbäuchiger Schnurrbart, der aussah als verbringe er seine Urlaube regelmäßig auf Mallorca, brüllte laut: "Hey, dieser Perverse bringt den kleinen Lilliputaner um!" An dieser Stelle wollte ich eine Auszeit einfordern, rausgehen und folgendes klarstellen:
1. "Lilliputaner" ist politisch unkorrekt.
2. "Kleiner Lilliputaner" ist ein Pleonasmus.
3. Ich habe nicht das Genital eines anderen Mannes in meinem Mund, also nennen Sie mich verdammt nochmal nicht pervers!
Doch dazu kam es nicht, stattdessen verfolgte ich mit Entsetzen, wie eine Horde Proleten in Polohemden, die sich für die Retter der Menschheit hielten, wutentbrannt in die City-Call Kabine stürzten. Auch wenn ich immer der Meinung war, Telefonzellen seien für die Benutzung eines Einzelnen konzipiert, wurde ich nun eines Besseren belehrt und durfte mit ansehen, wie sich fünf Erwachsene gleichzeitig in diesen Glaskasten drängten. Sie gaben ein unvorstellbar klägliches Bild ab - als wollten sie bei Gottschalk Wettkönig werden. Ich schätze diese Leute hätten auch den Inhalt eines 50 Liter Fasses Bier in das Trinkpäckchen eines Schulkindes reinbekommen. Wie dem auch sei, alles zog an mir und quetschte mich gegen alkoholisierte Leiber und wanstige Fettmassen. Durch den enormen Druck, der mich zu ersticken drohte, war es mir immerhin gelungen meine Eier aus dem Mund des kleinen Kannibalen zu befreien - wenigstens würde ich als Mann sterben, dachte ich, als mich etwas am Knöchel zwickte. Mit höchster Anstrengung schaffte ich es abwärts zu schielen, denn mein Kopf war zwischen zwei Bierbäuchen vergraben, die anscheinend vergebens nach mir Ausschau hielten. Dort unten stand der Winzling und winkte mich zu sich hinunter. Irgendwie gelang es mir meinen Körper aus der oberen Hälfte der Telefonzelle in die Untere zu befreien, wo 10 Beine wie die Säulen einer Kathedrale standen, die ein Architekt auf Speed konstruiert haben musste. Einem Säugling ähnlich, der es fertig bringt, durch die enge Vulva zu kriechen, in der 9 Monate zuvor das kleine Prachtstück seines Vaters schon alles ausgefüllt hatte, flutschte ich nun durch den Geburtskanal aus Polohemden. Der Kleinwüchsige stand bereits vor der Zelle, gestikulierte wild mit den Händen und deutete mir so den Weg durch die Beine ins Freie. Von außen sah der gläseren Kasten wie ein Einmachglas aus, in dem man das Abtropfgewicht gehörig überschritten hatte. Mir blieb nicht viel Zeit mich über diesen Anblick zu amüsieren, denn sofort trat mir das Männlein gegen den Knöchel und schrie: "Komm schon, weg hier!" In der Ferne ertönten Sirenen.

Fortsetzung folgt

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