Silver (Oktober 2002)

Die Leere ist ein Grund voll zu sein

Es gibt einige gewisse elementäre Grundsätze, die man nie vergessen sollte, wenn man einen angenehmen Abend verbringen möchte:
Punkt A: Diskutiere niemals mit einem Geldautomaten
Punkt B: Fang nie eine Schlägerei in einer Telefonzelle an
Punkt C: Frag auf keinen Fall den Türsteher, ob er sich hat umoperieren lassen

Doch das erfuhr ich erst später…

Teil Eins

Alles begann an einem herrlich beschissenen Samstagabend irgendwo zwischen Melancholie und Großstadt. "My baby left me…" war die einzige Zeile von vielen, die der schwablige schwarze Eunuch gegen das monumentale Echo der U-Bahn Hallen anschmetterte und die für die wenigen Zuhörer - die teils stehenblieben, um sich diese skurrile Erscheinung anzusehen oder weitergingen, wobei sie gekonnt über den Straßenmusiker hinweg sahen - in diesem Dialektkaudawelsch verständlich war. Ouh, der Mann wusste wovon er sang, das konnte man spüren. Ich frage mich bis heute, ob sein Baby ihn aus Gründen fehlender Geschlechtsteile verlassen hat oder ob diese schmerzhafte Trennung nur eine weitere mit sich zog. In einer Hinsicht konnte ich dem gutgenährten Aushilfs-Duke Ellington nur Recht geben: "My baby left me" und nicht umgekehrt. Ich schaute ihm eine Weile zu, während meine Hände unbewusst in der Hosentasche nach einigen Münzen kramten, die ich am Kiosk als Wechselgeld bekommen hatte. Langsam verwandelte sich das Tasten zu einem überlegten Vorgang, der all meine Konzentration in Anspruch nahm, so dass ich dem Gesang wieder nicht Recht folgen konnte. Stattdessen wurden meine Fingerspitzen fündig, und neben der Gewissheit meinen Schwanz immer noch am rechten Fleck sitzen zu haben, entdeckten sie zudem ein Loch in der Tasche - quasi im Austausch zu besagten Münzen. Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und schlenderte zu den Bankautomaten, die sich wie eine kleine Gruppe Prostituierter anbiederten und den vorbeikommenden Passanten in eindeutiger Pose anboten. Zärtlich schob ich dem erst Besten meine Karte in den Schlitz und beobachtete, wie dieser genüsslich die Scheibe, die die Tasten vor Junkie Händen und Randalierern schützt, aufzog und mir sein Innerstes offenbarte. Der Monitor forderte mich auf, ihm meine geheimsten Fantasien in Form einer vier-stelligen Zahl darzulegen. Sie waren doch alle pervers diese Flittchen - doch ich konnte dem verdrehten Rollenspiel gerade an diesem Abend einiges abgewinnen und musste grinsen.
"Wie wär's denn, wenn ich dich und deine Kollegin neben dir gleichzeitig ficke?" sagte ich. Das Valium, das ich mit der Wodka-Red Bull-Mischung runtergespült hatte, klopfte freundlich an die Innenseite meiner Hypophyse.
"Das fändest du geil, oder was is?"
"Du bist ganz schön krank, oder?" antwortete er mit einer erotischen Frauenstimme. Natürlich kam auch mir dieser Gedanke auf Anhieb ein wenig surrealistisch vor - ein sprechender Bankautomat!? So ein Schwachsinn - aber schließlich war ich es ja, der das Gespräch begonnen hatte, also wäre es unhöflich gewesen, seine Antwort zu ignorieren.
"Krank? Wieso?"
"Zumindest ein scheiß Sexist, der sich zu Hause vor Telefonsexwerbungen einen runterholt und dabei die Mädchen beschimpft, die ihn in der 6. Klasse nichtmal mit dem Arsch angeguckt haben."
"Hey, ich wollte nur 'n bisschen Kohle von dir. Dass da ne Verhaltenstherapie inbegriffen war, davon war nie die Rede, o.k.!?"
"Ach, dumm bist du auch noch, ja?"
"Leck mich doch! Jetzt rück endlich das scheiß Geld raus!"
"Dann musst du das schon eintippen! Du Affe!"
"Ich werd mich bei deiner befickten Bank beschweren und ihnen klar machen, dass sie diese scheiß Blechkiste hier verschrotten sollen."
"Ich wette, nachdem du mit dem Geld zum Kiosk gegangen und dir den St. Pauli Report geholt hast, um dann zu Hause an deinem kleinen Pillemann rumzuspielen."
"Du scheiß Wichskackgerätfotze! Halts Maul!"
"Sag mir erst ob's stimmt."
"Was stimmt?"
"Ob du an deinem Ständer rumfingerst während du auf das Blatt einer fetten Omi in Strapsen onanierst!"
"Sag mal hast du den Arsch offen?"
"Warum regst du dich dann so auf?"
"Hey, ich will nur ein paar Euro, damit ich dem Typen dahinten was zustecken kann, denn der hat Ahnung - der versteht was von wahrer Liebe!"
"Und wie will gerade jemand wie du das beurteilen können?" Ich drückte wild auf den Tasten rum, stellte die Flasche ab und schlug ein paar mal auf den Monitor. Der Automat schien nachzugeben, denn plötzlich hielt ich die Scheine in der Hand. Die Scheibe fuhr darauf augenblicklich herunter und meine Karte wurde ausgespuckt.
"Scheiße!" rief ich laut. "Du Kackding hast meinen fucking Wodka geklaut!" Verzweifelt prügelte ich gegen die Scheibe, die ihre Aufgabe äußerst professionell bewerkstelligte. Nach ca. 5 min. (in denen ich mir das gehässige Lachen dieser beschissenen Blechdose anhören durfte) kam ich auf die geniale Idee, die Karte einfach erneut einzuführen. "Ich spüre meine Füße nicht mehr!" dachte ich, als die Scheibe endlich aufging. Schnell griff ich nach der Flasche und drehte mich ruckartig rum, um schnell von dieser Teufelsmaschine wegzukommen (ähnlich wie Freier mit hochrotem Kopf aus dem Puff stürzen, bemüht möglichst unauffällig zu wirken und schnell Distanz zu ihrem Sperma zu bekommen, das sie ein Haus weiter in den Darm einer willigen Hure gepumpt haben, um nun in die Fassade eines netten Familienpapis zurückzukehren) - da stolperte ich über eine junge Frau, die unmittelbar hinter mir stand.
"Verdammte Schei-" wollte ich fluchen, als ich die umgerannte Gestalt erkannte.
"Anke Demolka???"staunte ich verblüfft. Sie war das Mädchen, das wir früher immer mit gefälschten Liebesbriefen und ausgedachten Dates bombadierten, um dann im Gebüsch hinter der Bank im Park zu sitzen, heimlich zu rauchen und uns tot zu lachen, während sie vergebens auf ihren Traumboy wartete. Wir waren ziemliche Scheißkerle - damals im 6. Schuljahr. Aber ich glaube in Wahrheit waren wir alle hinter der Demolka her, die im Gegensatz zu den anderen Mädchen in unserer Klasse schon richtig viele Haare unter den Achseln hatte - abgesehen von den aufregenden Rundungen unter ihrem T-Shirt, die gerade im Schwimmunterricht eine hypnotisierende Wirkung auf uns Jungs ausgeübt hatten. Mit 12 Jahren findet man einfach nicht die richtigen Worte, einem Mädchen zu sagen, dass man es mag und man versucht es auf eine subtilere Art wie Haareziehen oder Anrülpsen, nur um Jahre später festzustellen, das es ein Strauß Rosen auch getan hätte.
"Was machst du denn hier?" stammelte ich, im Bemühen Haltung zu wahren, während ich von ihr runterstieg und ihr auf die Beine half.
"Ich lasse mich von Besoffenen umrennen!" antwortete sie bissig.
"Ach? Machst du das öfters?" erkundigte ich mich ernsthaft. Sie schaute mich einen Moment an und suchte wohl nach einer Spur Ironie oder wenigstens einem Hauch Sarkasmus in meinem Blick, um dieser Aussage Sinn zu geben. Als sie zu dem Entschluss gekommen war, dass ich es wirklich ernst gemeint hatte oder zu betrunken war, um einem Dialog noch klar zu folgen - (sie hatte mit beiden Vermutungen recht) setzte sie ihren abweisenden Killerblick auf und sagte hochnäsig:
"Wie dem auch sei, ich habe es eilig. Man erwartet mich!" Ich habe es eilig. Man erwartet mich - Wie kann ein so schöner Mund so etwas Bescheuertes sagen?
"Huch, habe ich das jetzt laut gesagt?" fragte ich mich. Die Antwort kam prompt und in Form einer beringten, mit rotlackierten Fingernägeln verzierten Faust, die mir kameradschaftlich die Nase einschlug.
"FFUUUUUCKKK!!!" schrie ich schmerzerfüllt, wobei ich versuchte jedem der fünf "U's" eine noch größere Betonung zu schenken. Mein Blickfeld füllte sich mit kleinen Sternen, die zu einer Super Nova wurden. Bunte Haribobärchen umkreisten sie und sangen "Fly me to the moon". Ich taumelte und fiel erneut zu Boden.
"Nieso hast nu nas netan?" fragte ich und versuchte vergebens den Blutschwall mit den Fingern zu stoppen.
"Das wollte ich immer schon mal getan haben!" antwortete sie aus der Ferne und lachte gehessig. Ihre Lache kam mir seltsam vertraut vor, als hätte ich sie erst vor Kurzem gehört. Sie hatte so einen metallischen Unterton - fast maschinenartig. Ich rappelte mich auf und fühlte mich erstaunlich gut. Entweder war die Nase gar nicht gebrochen oder die Schmerzen schafften es noch nicht, den aus Betäubungsmitteln errichteten Wall in meinem Schädel zu erklimmen.

Fortsetzung folgt

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