RAKI (Dezember 2004)

Rock 'n' Roll ist kein Lehrstuhl

Mein letzter Beitrag für diese Rubrik liegt schon eine ganze Weile zurück, und daher hatte ich mir eigentlich für die Tour fest vorgenommen, wieder produktiv zu werden. Mein guter Wille lag für jeden einsehbar auf der Hand: Im Forum hatte ich dazu aufgerufen, dass ihr mir Themenfelder unterbreitet, von denen ihr euch erwünscht, dass ich sie beackere. Der Ertrag der Vorschläge wie auch meine Touremsigkeit blieben kläglich, jetzt ist die Herausforderung um so größer, dass nicht auch das literarische Erntedankfest magersüchtig gerät. Also sorge ich für atemberaubende Spannung, indem ich schon durch die Themenwahl ein Tabu breche: Der folgende Text verfolgt die These, dass das Tourleben generell, und insbesondere das meine bei den The Wohlstandskindern, gründlich doof und behämmert macht.

Weshalb sich meine guten Tourvorsätze als solch enttäuschendes Windei erwiesen, ist kein Mirakulum. Ich als alter Hase von Welt kann's euch ausplaudern: Das Tourleben wirkt in hohem Maße sinnabtötend und verblödend. Da kann man sich im Vorhinein auf noch so heilige Schwüre vereidigen, dass man auf Tour endlich mal seinem Fernstudium in Astrophysik nachgeht – am Ende kommt man doch nur mit einem Beutel heißer Luft und schlechten Leberwerten nach Hause. Insbesondere seitdem sich unsere Crew vergrößert, komme ich mir zunehmend entmündigt vor. Die nehmen mir ja die ganze Arbeit ab. Und ich hab nix mehr zu tun den lieben langen Tag. Wenn nicht grad die Stadt des Auftritts zu verheißungsvollen Touristenaktivitäten einlädt, oder mir ein Skatepark (bei gutem Wetter) letzte Auswüchse meiner Jugendlichkeit beschert, besteht die größte organisatorische Aufgabe darin, sich jeden Tag ein- bis zweimal zu duschen und nicht zu verhungern. Bei all dem Catering ist zweiteres wirklich völlig ausgeschlossen, allenfalls das Duschen kann durch die Infrastruktur der Clubs oder der Festivals schon mal verhindert werden. Na gut, dann riecht man eben. Außer der kleinen Mädels in der ersten Reihe merkt das ja niemand. Und denen kann man gegebenenfalls einfach Bier in den Ausschnitt kippen, dann stinken sie auch.

Ansonsten darf man sich damit herumschlagen, dass ständig die unbestimmte Erwartungshaltung in der Luft liegt, dass man besonders rockstarmäßige Kapriolen schlagen müsste, wenn man denn schon mal auf Tour ist. Und damit das gelingt, fängt man am besten schon zwei Stunden nach dem Frühstück mit dem Saufen an. Das macht dann aber natürlich nicht lustig, sondern nur lethargisch, denn, wie ich gelesen habe (das macht nämlich mächtig klug, dieses Lesen, und man kann sich immerfort mit protzigen Besserwissereien unbeliebt machen), ‚mittags sind wir alle Japaner'. Das bedeutet, dass uns jene Enzyme, die bei uns Langnasen den Alkohol abbauen, und die den meisten Asiaten bedauerlicherweise fehlen, über den Tag verteilt in unterschiedlich hohen Mengen zur Verfügung stehen. Mittags machen sie jedenfalls meist Pause, weshalb das berüchtigte Bier vor vier auch weniger urkomisch, als senioren-lahm macht. Mich zumindest. Aber wenn der Alkohol schon mal so allein da in seinem Kühlschrank verkümmert, und zudem nichts kostet, dann muss man ja. Dieser Umstand führt zur tourgültigen Faustregel: Um so weniger man zu tun hat, um so weniger bekommt auch auf die Reihe. Ach, wie gerne wäre ich ein versierter Technikfutzie, wie all unsere Crewmitglieder, und hätte den lieben langen Tag was zu schrauben, löten und justieren. Aber ich kann ja nur Bücherlesen.

Glücklicherweise vergisst man die ganze Misere umgehend, wenn man gerade nicht auf Tour ist. Die Erinnerung bauchpinselt vielmehr die Vorstellung vom Tourleben und lässt es schillernd bunt und unaufhörlich aufregend erscheinen, ebenso wie die Vorstellung, dass zu Kindheitszeiten das Weihnachtsfest immer weiß verschneit gewesen sei. Tatsächlich wird man aber gar nicht allabendlich zu enthemmten Sexpartys eingeladen. Eigentlich geschieht das nie. Bestenfalls kann man sich selbst entblöden dazu einzuladen, und das wird dann wiederum bestenfalls als ironisch gemeint belächelt. Wirklich werden lassen kann man solche Eskapaden nur, indem man im sicheren Abstand von ein paar Jahren Bandbiographien verfasst, in denen hinter vorgehaltener Hand von moralsprengenden Vergehen ungeahnten Ausmaßes gemunkelt wird (die angeblich beteiligten Personen müssen natürlich bereits ‚leider' verstorben sein, um die Gefahr auszuschließen, dass sie das Ablegen falschen Zeugnisses monieren). Der Leser kann dann abgeklärt urteilen: Ach so, deshalb hat der Typ mit 40 schon so viele Falten im Gesicht.

Erstaunlich ist, dass ein Vorgang, der solch eine intensive Verblödung zur Folge hat, im vorhinein ein gehöriges Maß an geistiger Herausforderung verlangt – bei der Organisation einer Tour kann man gut und gerne über sich selbst hinauswachsen. Daran erinnert man sich auf Tour nur nicht mehr.

Jetzt sind wir aber gerade mal nicht auf Tour, sondern dürfen uns wieder mit der fröhlichen Sinnfindung des Lebens beschäftigen. In meinem speziellen Fall führt das examensbedingt zur Auseinandersetzung mit dem absurden Weltbild nach Albert Camus und dem Schnauzbart Grass. Das ist genau das Richtige, wenn man zuvor auf Tour schon so richtig schön sinnlos herumgeeiert ist. Unweigerlich drängt sich da ein alter Geistesblitz aus meinen genialen Jugendtagen auf, den ich jetzt als Aphorismus veredele:

Das Leben ist ein Osterei, kunterbunt und innen hohl.

Wer Lust hat, kann sich das ja auf ein sogenanntes ‚Fun-Shirt' drucken und neben denen mit dem ‚10 Gründe, warum ein Bier besser ist als…'-Aufdruck zum Verkauf an die humoristisch Feinsinnigen unter uns auslegen.

Wer bis hierhin mitgelesen hat wird also jetzt schon mit meiner damaligen Überzeugung belohnt: Das Leben ist überhaupt absurd. Ob mit oder ohne Tour. Ganz egal. Die Vorschläge, die ihr mir als Themensteinbruch ins Forum getippt habt, untermauern diesen Eindruck, ihr scheint ja auch nicht zu wissen, mit was ihr euch beschäftigen sollt, in dieser postmodernen Welt ganz ohne ideologische Verbindlichkeiten.

Es fängt an mit der Frage nach Sinn oder Unsinn von Intimrasuren. Also bitte! Das soll doch bitteschön jeder für sich selbst ausmachen. Viele Menschen trifft man mit dieser Entscheidung ja ohnehin nicht, es sei denn, dass man sich tags darauf für die Exhibitionistennachwuchsrubrik der Bravo ablichten lässt. Die Hauptaufgabe von Frisuren ist doch, dass man sich 10 Jahre später im Fotoalbum selber über die einst getragenen Haarschnitte erschreckt. Aber gibt es wohl Menschen, die Fotoalben mit Bildern ihrer Intimfrisuren füllen? Das will ich lieber gar nicht wissen.

Anschließend kam die Frage, ob man Ohrenschmerzen vom Handy bekäme. Ja was weiß ich denn. Ich hatte noch nie eins. Eines Tages lasse ich mich ins Kuriositätenmuseum stellen, weil ich der letzte verbliebende Mensch auf Erden bin, der noch nie eine SMS geschrieben hat. Dann ist mir wenigstens die Rente sicher. Überhaupt lasse ich mich auf keine weitere Diskussion über den Nutzwert von Mobiltelefonen ein. Dass diese Dinger in jener und solcher Situation ganz tolle Hilfsmittel zur Kommunikation darstellen, ja sogar Leben retten, wenn man mal in eine Gletscherspalte fällt und dann noch immer die Bergwacht anzurufen in der Lage ist, steht doch außer Frage. Aber darum geht es doch überhaupt nicht mehr. Seit geraumer Zeit gilt die alte kommunikationstheoretische Binsenweisheit ‚Das Medium ist die Botschaft'. Das Reden via Handy wird vom Reden über das Handy abgelöst. Und die Frage danach, ob ich mir nun das Monatspaket 1, 2, oder 3 von Jamba! auf mein Handy bestelle, überdeckt das Bewusstsein um den eigentlichen Zweck der modernen Kommunikationsformen wie pelziger Schimmel einen alten Joghurt. Also kein Wort mehr darüber. Sollte ich übrigens irgendwann doch mal zum Mobilphonbenutzer konvertieren, dann verbanne ich jeden, aber wirklich jeden, der seine Verwunderung über diesen Widerspruch auch nur in seinem Minenspiel Ausdruck verleiht, auf meine kategorische Spamliste. Derjenige darf dann nur noch über Dritte mit mir kommunizieren. So, wie in jener Szene von Loriots Papa ante portas, in der der dämliche Sohn im Taxi zwischen seinen Eltern vermitteln muss. ‚Frag Papa mal, wann unser Zug fährt.' Oder so ähnlich.

Ein wenig Kontroverse im Forum hat der Vorschlag gebracht, die Vermarktung von vermeintlich punkigen oder ‚alternativen' Szenezugehörigkeitssymbolen wie Schuhen, Nietengürtel usw. zu besprechen. Tja, wer sich im 21. Jahrhundert noch ‚gegen den Trend' kleiden möchte, der darf wohl gar nicht mehr einkaufen gehen, sonder muss geschickt und innovativ mit Mamas Nähmaschine umgehen können. Aber weil sich Erfahrung nun mal nicht vererben lässt, muss weiterhin jede Generation für sich selbst entdecken, dass die Insignien ihrer Individualität wie ihre Chucks, ihre Haarschnitte und ihr Drogenkonsum schon von anderen Generationen mit gleicher oder ähnlicher Absicht in Anspruch genommen wurden. Überhaupt kann man sich seine Individualität mal besser in die Haare schmieren. Unverwechselbar eigen ist sowieso jeder Mensch. Daneben sollte er sich eher Gedanken darüber machen, wie er mit den furchtbar vielen anderen Menschen um ihn herum gut klarkommt, als sich ständig von ihnen abgrenzen zu wollen. Wer sozial souverän, gerecht und verantwortungsvoll handelt, ist schon individuell genug.

Besonders blöd wird's, wenn Individualismus mit Anarchismus gepaart werden – ist ja nicht ganz so selten unter den Bunthaarigen. Gerade der Anarchismus, so spekulativ dieses Modell eh schon ist, ließe sich nur von Menschen mit einem ausgeprägten Sinn fürs Kollegiale umsetzen. Schätze ich zumindest. Ist mir aber auch egal, diese Gesellschaftsutopie ist mir zu eingleisig, als dass ich mich damit intensiver beschäftigen wollen würde. Solchen fatalen Weltbildern wie dem Anarchismus darf man sich nur mit 17 hingeben (es sei denn, man hat es selbst erfunden, dann darf man darüber habilitieren). Mich schreckt solch ein transzendentales Freio, an dem man sich vor den Fängen des Sowohl-als-auch und des Einerseits-Andererseits verstecken kann, ab. Mit 17 träumt doch noch jeder davon, sich von seinem Bausparvertrag später ein eigenes besetztes Haus zu kaufen.

Sehr lehrreich für Utopien dieser Art finde ich den Film Die fetten Jahre sind vorbei. Die Hauptdarsteller verstricken sich letztlich mehr in ihren Beziehungswirren, als dass sie noch Herr ihrer Revolte sein könnten. Das aufbegehrende Ende des Films finde ich daher recht albern.

Eine geistreiche Gesellschaftskritik, die gut zu dem restlichen Text passt, lief mir gerade über den Weg:

"Die Tragödie des modernen Menschen besteht nicht darin, dass er eigentlich immer weniger über den Sinn des eignen Lebens weiß, sondern dass ihn dies immer weniger stört."

Das hat Václav Havel gesagt. Sinnfindung muss der Mensch in dieser Zeit nun mal dadurch betreiben, dass er sich selbst einen Sinn, eine Aufgabe setzt und diese vertritt. So kommen Albert Camus und Günter Grass jedenfalls aus der Misére, ihre Umwelt als absurd zu empfinden. Sinnfindung ist aber anstrengend. Und man macht sich ja geradezu lächerlich, wenn man noch für oder gegen irgendwas ist. Warum ich zum Beispiel McDonalds verachte, hat noch keiner aus unserer Crew begriffen. Statt dessen wird mir immer wieder versichert, "dass man da auch Salat essen könne." Zu diesem Dilemma führe ich noch ein Zitat an, dass bei mir hängen geblieben ist:

"Der Wille, die Welt zu verbessern, gilt als der Gipfel der Lächerlichkeit, während die konträre Anstrengung auf eine gewisse Hochachtung immer rechnen darf." Dies stammt von Hans Magnus Enzensberger von 1964.

Für Weltverbesserer halte ich zum Beispiel alle Macintoshbenutzer. Die kommen mir vor wie die frühen Christen: Irgendwie aufgeklärter und für eine bessere Welt, und sie lassen sich nicht von Windows mit seinen virtuellen Bärenfallen, die den Benutzer für immer an das Programm fesseln, die Unabhängigkeit vernebeln, so wie ich, der ich nie verstanden hab, worin jetzt genau der Unterschied zwischen diesem und jenem Betriebssystem liegt. Im Gegensatz zu den Christen sind Mac-Benutzer aber nicht so missionarisch. Und anstelle von Fischen malen sie überall Äpfel hin.

Gerne würde auch ich die Welt verbessern, zum Beispiel, indem ich aufklärerische Lyrik verfasste, wie unser Herr Silver. Aber mir fällt ja bei jedem Anflug von Ernsthaftigkeit nur Unfug ein. Zum Beispiel dieses:

Im Fremdwörterbuch habe ich einen Begriff gefunden, dessen Bedeutung jedem Metalfan das Blut in den Adern gefrieren lassen wird. ‚Gampsodaktylie' bezeichnet die Unfähigkeit, den kleinen Finger autark von den übrigen zu strecken und bewegen. Jetzt ist jeder Leser zum Selbstversuch aufgerufen: Könnt ihr mit beiden Händen das gängige Satanssymbol (auch geläufig als Cursor auf unserem Homepagemenü) formen? Ich kann das nur mit rechts. Links bekomme ich den kleinen Finger nicht gehoben, ohne dass sich der Ringfinger mitheben würde. Grausam, was? Gut, dass mir das nie aufgefallen ist, als ich noch Metalhead war. Zumindest hat mich diese Tragödie zu einem geistreichen Vierzeiler motiviert:

Ich bange was die Mähne hält.

Und poge bis der Letzte fällt.

Nur meine Hand, die heb ich nie.

Denn ich hab Gampsodaktylie.

So, diesem Text fehlt zum Ende hin zwar der rechte Bogen und laviert nur so ein wenig um die hohe Frage von Sinn und Unsinn, Sein und Sollen herum, aber dafür ist er schön lang, und ich kann mit gutem Gewissen weitere 2 Jahre nix Neues schreiben. Wenn's euch bei all den Problemen des Daseins ein Trost ist: Wenigstens ist mir eingefallen, wie ich sterben möchte:

Eine populäre Todesursache ist es, mit Zigarette im Bett einzuschlafen, und dabei nebst Hotelzimmer zu verkokeln. Ingeborg Bachmann hat das zum Beispiel geschafft. Nun ist mir diese Variante des Ablebens als Nichtraucher verwehrt. Daher fiel mir neulich in Potsdam eine Modifikation für Trinker ein: Ich möchte dereinst mit einer geöffneten Bierflasche in der Hand einschlafen und infolgedessen ertrinken.

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